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Anmerkungen zur Bauästhetik der Rudolf Steiner Schule Siegen als Ausdruck anthroposophisch-organischer Baukunst Teil 1

Die Rudolf Steiner Schule Siegen

Der damalige Baukreis war bald nach der Gründung des Schulvereins zusammengetreten, um einen besonderen Bauplatz zu finden, denn die Architektur an diesem Schulbau sollte eine ganz besondere sein. Und das stimmt. Der Architekt als Baukünstler Friedmut Delius, der Bildhauer und Künstler Valentin Niemann, Lehrerinnen und Lehrer sowie engagierte Eltern haben die Grundideen dieses Schulgebäudes immer weiter zu ihrer finalen Gestaltung geführt. Die Leitidee bildete die in der Anthroposophie durch Rudolf Steiner selbst als Architekt festgeschriebene „goetheanistische Bauweise“. Man kann solche Bauten wie die Siegener Waldorfschule daran erkennen, dass bauliche Grundformen dem Prozess der Metamorphose unterzogen werden, um dadurch organische Baugesetze am Schulbau sichtbar zu machen. Mit diesen Grundgedanken konnte das Planungsbüro der Firma Delius zunächst wenig anfangen. Aber man wollte aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen und ihrer Eltern, der Lehrerinnen und Lehrer ein Raumkonzept entwickeln, das ihr Schulgebäude eindeutig als einen umfassenden Organismus ausweist und als solches auch sichtbar macht. Es sollte der für alle in ihm tätigen und lebenden Menschen Lebensraum, Lernort und Heimat sein. In der Planung des Schulgebäudes bildeten die Leitgedanken der anthroposophischen Pädagogik das Gestaltungsmotiv. Ihre Signaturen sind heute sichtbar, denn sie zeigen sich deutlich in der Gestaltung des Schulbaus bis in das Innere des Baus in die Klassenräume hinein: So sollte die Gestaltung der Klassenräume von innen heraus vor allem die seelische Grundstimmung der Altersstufen berücksichtigen.

Valentin Niemann, der Künstler und Bildhauer, stellte diesen Gedanken in den Mittelpunkt seiner Planungen und Gestaltungen. “Nur von innen heraus kann man die Sache angehen.“ Im Mittelpunkt steht immer der Mensch mit seinen Anlagen, seinen Empfindungen. Spüren und Empfinden ist keine Sache des Kollektivs, vielmehr des Einzelnen. Jeder hat seinen persönlichen Blickwinkel, nicht nur vom Geistigen her sondern auch im inneren Bereich der Emotionen, der Seele. Ein Mensch, der sich nach außen hin öffnet, braucht auf jeden Fall ein stabiles inneres Standbein, damit er für sich die Dinge, die er aufnimmt, sortieren und sie in sich arbeiten lassen kann. Schülerinnen und Schüler tun dies den ganzen Tag stets auf Neue. Dafür brauchen sie den Rahmen, und der ist die innere Gestaltung des Schulbaus. Valentin Niemann dazu: “Beispielsweise sollen sich Gedanken nicht in einer Ecke fangen, sondern sie sollen fließend weiterlaufen.“ In der anthroposophischen Architektur gibt es daher „fließende Formen“, deren Denkmal sich im und am Goetheanum (Dornach/Schweiz) befinden, wo ihr geistiger Vater und Architekt Rudolf Steiner selbst war.

Schon die Dachkonstruktion der Siegener Waldorfschule führt in die fließende Form ein, die sich unter der wuchtig erscheinenden Eindeckung (Naturschiefer) fortsetzt. Um diese Formen schließlich zu erreichen, fertigte der Baukreis zunächst Modelle aus Ton an. Man versuchte, Gedanken und Empfindungen in diese Modelle hineinzukneten.

Für den Künstler Valentin Niemann war das ein echter sozialer Prozess. Der künstlerische Aspekt während der Durchsetzung des gesamten Projektes lief gleichrangig neben dem architektonisch Machbaren. Das Team Niemann / Delius war sich manchmal nicht einig über die Auffassung von einer fließenden Form des auf künstlerischen Ideen und praktischen Erwägungen beruhenden Konzeptes. Es wirken ja im Prozess organischer Gestaltung auch besonders die immateriellen Gestaltungskräfte, die, wenn sie fehlen, dann zu Schulbauten führt, wie man sie direkt neben der Waldorfschule schon sehen kann.

Wie sieht nun die neue Schule aus? Das Herzstück des kompletten Baukörpers ist der oktogonale Festsaal mit Bühne. Aus dem Architekturbüro wird das Raumkonzept erläutert: In 13 Klassen wird Unterricht gehalten, mit Start zu Beginn 1988/89. Dazu kommen naturwissenschaftliche Räume für die Fächer Biologie, Physik und Chemie. Zwei Werkräume für Holzarbeiten und einer für Metall stehen zur Verfügung. 2 Eurythmieräume (in Ost und West) gliedern sich an. Außerdem wird ein Zeichenraum eingerichtet. Es gibt eine Turnhalle, deren Raumkonzept dreifach ist. Der Festsaal der Schule fasst knapp 500 Sitzplätze.

Von außen gesehen erinnert das Gebäude an die Form eines Dreisterns. Beim genauen Hinsehen allerdings scheint das Trapez als Metamorphose der organischen Bauweise des Goetheanum den Grundbauplan auch in Siegen zu bestimmen. Wir können an den Planungsskizzen deutlich sehen, dass der Baukreis von immateriellen Gestaltungskräften künstlerisch impulsiert worden ist, was wir häufig finden können, wenn wir an einem Gebäude sofort die organische Grundidee erkennen.

Das Markenzeichen für einen anthroposophischen, organischen Bau ist die bewusste und sorgfältige Wahl des Baumaterials. Alles muss zusammen passen, es muss stimmen. Biologische Bauweise wird groß geschrieben. Das Dach besteht aus Naturschiefer, das Mauerwerk aus Tonstein. Im Inneren präsentieren sich die abhängenden Decken aus Holz. Das Prunkstück ist die Bühne, denn es sollte mit geringen Mitteln ein kleines Theater gebaut werden. Das achteckige Prinzip des Saales mit Bühne sollte ein mathematisch ordnendes Moment in das Gesamtkonzept einfügen. Der Bühnenboden wurde geringfügig (2,5% Gefälle) zum Publikum hin geneigt, damit bei Eurythmie-Aufführungen auch die Füße gesehen werden können.

Jede Klasse hat 3 Fenster. Die Stürze (Architrave) dafür sind speziell gegossen worden, nachdem sie als individuelle Skulpturen von Valentin Niemann angefertigt worden waren. Auch für die drei Säulen unter dem Windfang des Haupteingangs fertigte Valentin Niemann individuelle Kapitäle an. Überall zeigt sich das große Engagement der Eltern, die, um Kosten zu senken, Holzdecken gezimmert, Holzparkett-Böden geschliffen und eingewachst haben.

Lucia Heumann

Dieser Artikel erscheit am 23.05.25 als 8. Teil einer Serie zum 100 - jährigen Bestehen des Jung-Stilling- Kreises Siegen, die in den vergangenen Wochen in loser Reihenfolge in der Freitagsinfo der Waldorfschule Siegen und auch der Freitagsinfo der Johanna Russ Schule erschienen ist.