Die Etappen der Entstehung der Siegener Waldorfschule begannen damit, dass das damalige Schulgründungs-Komitee beschloss, den Neubau der in Siegen-Wittgenstein einmaligen Waldorfschule auf der Siegener Giersberg-Kuppe zu planen und auszuführen. Der Baukreis entwickelte zunächst ein Bauprogramm: Mitglieder dieses Kreises fuhren ins Ruhrgebiet, um sich dort ähnliche Bauten anzusehen. Es wurden Tonmodelle gefertigt, Zeichnungen entwickelt, die darstellen sollten, wie der Schulbau angesichts der Felsformation auf dem Giersberg sachgerecht und künstlerisch gestaltet werden konnte. Dann wurde die Raumanordnung aus den Bedürfnissen skizziert, wie sie sich aus dem lebendigen Wirken des Siegener anthroposophischen Schulvereins ergaben (siehe Teil 1). Das Material war gewählt. Ein dreigeschossiger Ziegelbau sollte entstehen. Schließlich oblag die Hauptverantwortung für die Errichtung und Gestaltung des Schulbaus dem Team Friedmut Delius als Architekt und dem Künstler Valentin Niemann sowie einem Lehrer-Elternteam als interner Baukreis. Der Künstler nahm an verschiedenen Unterrichtsstunden aller Stufen teil, um sich ein Bild von den sich ergebenden räumlichen Notwendigkeiten dieser Waldorfschule zu machen. Die Schule sollte eine eindeutige anthroposophische Handschrift erhalten und zeigen, wie stark sich der goetheanistische Gedanke der Metamorphose als das Fließen von Formen am Siegener Schulbau realisieren lässt. Auf Seiten des Architekten Friedmut Delius sollte der Bau vor allem so in die Landschaft passen, dass er sich als Schulbau der städtischen Waldorfschule landschaftlich passend in den weitestgehend ausgebauten Stadtteil des oberen Giersbergs einschmiegte. Er sollte nicht nur organisch der Felsformation angepasst werden, sondern seinen Zweck als Schulbau mit Würde repräsentieren. Der Künstler Valentin Niemann konnte seine anthroposophischen Kunstimpulse am Siegener Schulbau sichtbar machen, weil er sich auf die Vorbilder direkt aus dem Goetheanum bezog, wo Rudolf Steiner selbst der Architekt gewesen war. Er hatte selbst über Jahre in Dornach am Saalausbau des Goetheanum mitgewirkt und auch bis kurz vor seinem Tod im Dornacher Archiv an der Dokumentation der anthroposophischen Kunstobjekte und Schriften mitgearbeitet. Die Nachforschungen über die Planungsabläufe der Schulkonstruktion ergaben, dass es für beide Künstler möglich war, ihre Vorstellungen und Ziele zu koordinieren. Das Baumotiv der Rudolf-Steiner-Schule bezog sich ausnehmend auf die Frage nach der Verteilung von Lasten, der Schwerkraft angesichts der Herausforderungen, die durch die Felsformation des Unterbodens gegeben waren. Aus anthroposophischer Sicht sollte er auf der Kuppe des Siegener Giersbergs das Himmelselement und die Erdenkräfte miteinander verbinden, Stützen und Lasten und Gleichgewicht erhalten und durch die Verteilung der Raumeskräfte dieses innere Verhältnis wesenhaft zum Ausdruck bringen. Auch das vorherige Erkunden von Wasseradern auf dem Gelände gehörte zu den allerersten Vorbereitungen der Konstruktionspläne.
Das Entwurfmotiv für den Neubau wurde präsentiert. Man hatte die Felskuppe des oberen Giersbergs „halbmondhaft“ umringt. Die „Seitenarme der Schule“, die an das A der Eurythmie erinnern, architektonisch sinngerecht organisiert. In der Mitte wurde mit dem Festsaal ein Versammlungsraum eingerichtet, der den Kindern und Jugendlichen das von außen nach innen Strahlende des Geistigen zuströmen lässt. Alles taucht im Grundsteinspruch auf und ist vergleichbar mit der Dreiteiligkeit der Johanni-Imagination: Höhe, Mitte, Tiefe.[1]
Die Gestaltung der Klassenräume, der Türformen und Fenster richtete sich nach den verschiedenen Erfordernissen der Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe: Die Räume der Unterstufe wurden so gestaltet, dass sie mehr einen umhüllenden Charakter haben sollten: Die Holzdecken sind rund und zentriert auf die Mitte des Raumes gerichtet. Die Räume der Mittelstufe strecken sich, dasselbe gilt für die Türen und Decken. Für die Oberstufe sind die Räume klar geometrisch gehalten: Die Decke ist gleichmäßig flach. Die Richtung zentriert sich auf die Tafel. Alles ist nach menschenkundlichen anthroposophischen Erkenntnissen gestaltet. Hinzu kommen die Farblasuren an den Wänden der verschiedenen Klassenstufen. Die Turnhalle wurde angebaut, sie ist eine Dreifach - Turnhalle und über den ersten Stock auch von innen zu erreichen. Die Dachfläche von 5500 Quadratmetern ist komplett mit Naturschiefer eingedeckt. Die Holzdecke im Festsaal wurde komplett von den Eltern angebracht.
Die Schönheit des Eingangsbereichs mit der gesamten Vorderfront, der Rückenfront sowie den Kunstobjekten des Innenbereichs ist dem Künstler Valentin Niemann zu verdanken. Die durch seine Bildhauerarbeit angefertigten Kapitelle zeigen die 3 tragenden Säulen vor der Eingangshalle, wie sie auf ihre Weise die Dreigliedrigkeit des Menschen (Leib, Seele, Geist) zum Ausdruck bringen und auch die drei Seelenglieder des Menschen (Denken, Fühlen und Wollen) nicht unberücksichtigt lassen. Die Vertiefung in diese Formen[1] lassen daher den geistigen Bezug der Menschen, die in das Schulgebäude eintreten, erdenken, erfühlen und auch wollen und weisen in eminenter Weise auf dasjenige hin, was die Eintretenden im Inneren der Schule erwartet. Verstärkt wird dieser Eindruck von den Architraven über den Fenstern der Front- und Rückseite, die alle auch von der Hand des Bildhauers geformt und schließlich gegossen worden sind (Fa. Quast/ Siegen)
Wir dürfen uns sicher sein, dass keine andere Waldorfschule auf der ganzen Welt in diesem einzigen Sinne so schön ist, wie der Siegener Schulbau.
Die Verteilung sämtlicher Nutzungsräume innerhalb des Schulbaus ist ebenfalls von außen nach innen gerichtet: Osten und Westen strahlen in die Mitte des Baus: Nach Betreten des Schulgebäudes gelangen wir in eine Eingangshalle. Von dieser Halle aus zweigen die Hauptgänge in die beiden Richtungen links nach Osten, rechts nach Westen ab. Auf der ersten Etage findet aus diesen beiden Richtungen ein Zusammentreffen von Osten und Westen statt, und zwar im Obergeschoss dieser Begegnungshalle, wo ein Tisch, Holzbänke und Schauflächen angebracht sind.
Der warme Charakter dieser Halle wird durch die roten Ziegel im Zentrum der Begegnung im Obergeschoss mit einer durchgezogenen Stufe verstärkt. So lädt die Halle nicht nur zum Verweilen ein, sondern macht es auch möglich, dass bei Versammlungen alle Kinder und Jugendlichen der Schule und die Lehrerinnen und Lehrer anwesend und beteiligt sein können, allein aufgrund der Tatsache, dass von oben der Blick nach unten in Richtung Eingangsbereich gelenkt wird., von wo man die Sprache nach oben richten kann. In der Adventszeit wird jedes Jahr ein stattlich großer Adventskranz im Eingangsbereich angebracht, den man bis zum Weihnachtsfest dort immer sieht: von unten und von oben.
Die Handschrift des Künstlers Valentin Niemann findet sich noch an der Gestaltung der Türen und deren „Beschilderung“ vor den Klassenräumen. Man findet diese Türformen auch im Goetheanum.
Die Besonderheit der Innenraumgestaltung des Siegener Schulbaus ist ebenso wie die Außengestaltung das Ergebnis immaterieller Gestaltungskräfte, die die Künstler und alle in und an der Schule an der Gestaltung beteiligten Menschen sichtbar impulsiert haben. Wir finden hier ein sinnenfälliges Beispiel dafür, dass ein so emblematisches Gesamtkunstwerk wie die Siegener Waldorfschule immer zu den Menschen sprechen kann, egal ob jetzt oder in der Zukunft, denn die Sprache der organischen Gestaltung ist unvergänglich, genau wie die des abgebrannten 1. Goetheanum, das seither in den Herzen der Menschen lebt.
Redakteurin i.A. : Lucia Heumann l-heumann@web.de
[1] Wie auch die der Skulptur im Stilleraum siehe Brief 5
[1] Rudolf Steiner „Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen“ Dornach 1923